Umstrittene Studie bewertet Indizien für Schäden durch Fleisch-Konsum als zu schwach und empfiehlt, den Konsum nicht aus gesundheitlichen Gründen einzuschränken (Annals of Internal Medicine)

Eine Meta-Analyse der bisherigen Studien zu den gesundheitlichen Effekten des Fleischkonsums hat laut einem internationalen Team von Wissenschaftler*innen ergeben, dass es keine hinreichende Evidenz gibt, um einen geringeren Konsum von rotem oder verarbeitetem Fleisch zu empfehlen. Zwar haben die ausgewerteten Beobachtungsstudien einen statistisch signifikanten Effekt für kardiovaskuläre Erkrankungen, Typ-zwei-Diabetes und Darmkrebs ergeben, wenn Proband*innen drei Portionen Fleisch pro Woche weniger zu sich genommen haben. Die Risiken sind aber zum einen aus Sicht der Forscher*innen zu klein, um für Einzelne eine große Rolle zu spielen. Zum anderen sei die Qualität der durch Beobachtungsstudien gelieferten Evidenz schlecht. Für diese Einschätzung haben die Wissenschaftler*innen die GRADE-Kriterien verwendet, welche ursprünglich zur Bewertung klinischer Studien entwickelt worden sind. Ihr Fazit: Es fehlen gute, randomisierte Studien, welche die Effekte von rotem und verarbeitetem Fleisch belegen können. Zudem würden viele Menschen gerne Fleisch konsumieren. Daher sollten sie es weiter so zu sich nehmen, wie sie es möchten. Die Meta-Analyse der Wissenschaftler*innen ist in Form mehrerer Studien am 01.10.2019 im Fachblatt Annals of Internal Medicine veröffentlicht worden.

Mindestens zwanzig Mal haben deutschsprachige Medien unabhängig voneinander über die Publikation berichtet. Eine Vielzahl von an der Studie unbeteiligten Expert*innen ist dabei zu Wort gekommen und hat sie oftmals stark kritisiert. Die Konklusion der verschiedenen Berichte ist sehr unterschiedlich ausgefallen. Einige, wie zum Beispiel Spiegel Online, haben ausschließlich die Empfehlung der Studie, gleichbleibend Fleisch zu essen, wiedergegeben. Und ein längerer Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) (25.10.2019) hat die Studie sowie die Ansicht, Fleisch sei nicht ungesund oder besonders klimaschädlich, aktiv verteidigt. Viele andere Medien, wie etwa der NDR, haben sich auf kritische unbeteiligte Expert*innen gestützt und die Studie zum Teil deutlich angegriffen.

So befand ein Experte des Universitätsklinkums Schleswig-Holstein im NDR, aus den Daten der Studie ließen sich die Empfehlungen nicht ableiten. Wie er in einem bei der Zeit (15.10.2019) veröffentlichten Artikel schrieb, sei außerdem nur eine kleine Verminderung des Fleischkonsums untersucht worden, weshalb natürlich die gefundenen Effekte nicht so groß seien. Und es gebe viele Gründe, den Ergebnissen aus Beobachtungsstudien zu trauen: So zeigten sich in Tierstudien ähnliche Effekte, die biologischen Grundlagen seien plausibel und es sei ein linearer Zusammenhang zwischen mehr Fleisch und stärkeren Effekten über viele Studien hinweg mit unterschiedlichen Stichproben zu beobachten. Ebenfalls im NDR wies ein Experte des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) darauf hin, dass Fleisch definitiv das Mikrobiom schädige. Die Schlagzeilen zur Studie seien falsch und würfen die Ernährungsmedizin um Jahre zurück, meinte im NDR auch ein Experte der Medicum Hamburg GbR. Vielen Menschen schade hoher Fleischkonsum eindeutig.

Ähnlich kritisch gab sich ein Experte des Max-Rubner-Instituts laut Die Presse, Tagesspiegel und taz. Demnach gebe es viele wissenschaftliche Beweise für gesundheitliche Schäden durch Fleischkonsum. Selbst wenn unklar sei, ob diese direkt durch das Fleisch oder durch die gesamte, damit verbundene Ernährungsweise verursacht würden, bedeute viel Fleisch fast immer eine ungesunde Ernährung. Dementsprechend hielt es ein Experte des Deutschen Krebsforschungszentrums, den die FAZ (18.11.2019) sowie die Neue Zürcher Zeitung zitiert haben, für wenig zielführend, wenn der Eindruck vermittelt würde, jeder könne bedenkenlos so viel Fleisch essen wie er wolle. Selbst wenn es Unsicherheiten in den Studien gebe, gelte das Vorsorgeprinzip. Auch eine Expertin des World Cancer Research Fund erklärte laut der AFP und dem Bayerischen Rundfunk, die Empfehlungen für einen geringen Konsum würden aufrecht gehalten. Sie würde 30 Jahre langer Forschung vertrauen.

Laut einem offiziellen Statement des Max-Rubner-Instituts zur Studie, welches der Focus zitiert hat, sind die analysierten Beobachtungsstudien zu Unrecht als unsicher bewertet worden. Die Bewertungskriterien eigneten sich nur, um klinische Studien, nicht jedoch ernährungswissenschaftliche Studien, einzuschätzen. Ins gleiche Horn blies die Harvard T.H. Chan School of Public Health, aus deren Statement im Ärzteblatt zitiert worden ist. Und auch ein weiterer Experte des Deutschen Krebsforschungszentrums, den die taz zur Studie befragt hat, sowie eine Expertin der Universität Zürich, deren Meinung von der NZZ und Watson.ch wiedergegeben worden ist, hielten die Kriterien, mit denen die Beobachtungsstudien eingestuft worden waren, für falsch. Im Kontrast hierzu befand ein Experte der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich laut der FAZ (18.11.2019) und NZZ, die Kritik sei berechtigt. Die Tatsache, dass keine randomisierten Untersuchungen wie bei klinischen Studien möglich seien, mache die Aussagekraft der verwendeten Beobachtungsstudien nicht besser.

Andere kritisierende Expert*innen störten sich insbesondere daran, dass der Fleischkonsum in der Studie ausschließlich aus individueller gesundheitlicher Perspektive betrachtet worden ist. Die ökologische und ethische Dimension des Fleischkonsums fehlt aus Sicht eines Experten der Universität Oxford. Er bezeichnete den Ansatz laut der Süddeutschen Zeitung daher als kurzsichtig. Die Tatsache, dass die Studienautor*innen die individuellen Präferenzen der Menschen als Argument für ihre Empfehlungen benutzt haben, störte besonders eine Expertin der American Cancer Foundation, die von der AFP zitiert worden ist. Und eine weitere Expertin der Universität Oxford vermisste die gesamtgesellschaftliche Perspektive bei den Gesundheitseffekten. Selbst kleine Auswirkungen des Fleischkonsums auf Einzelne würden in der Gesamtzahl bedeutsame Effekte ergeben. Ihre Aussage ist ebenfalls von der Süddeutschen Zeitung wiedergegeben worden.

Wohlwollender gaben sich weitere Expert*innen, wie etwa ein Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung, den die dpa, der Focus und der Tagesspiegel zitiert haben. Ihm zufolge ist es das Grundproblem von Ernährungsstudien, dass sie keine Ursache-Wirkung-Beziehung beweisen könnten. Die Publikation sei ein Impuls, die Studien zu verbessern. Jedoch sollten die offiziellen Ernährungsempfehlungen nicht verändert werden. Ähnlich äußerte sich der Zeit (01.10.2019) zufolge ein Experte der John Hopkins Bloomberg School of Public Health. Die  Studie lege nahe, innezuhalten und die Überzeugung, rotes Fleisch führe zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs, nicht weiter zu verfestigen. Mehr impliziere sie aber nicht.

Schließlich hat es auch einige Stimmen gegeben, die die Publikation unterstützten. So begrüßte ein Experte der Universität Stanford die Publikation und befand, man müsse ehrlich sein. Bisherige Beweise seien von minderer Qualität. Er ist von der AFP und der FAZ (25.10.2019) zitiert worden. Auch zwei Expert*innen der Indiana University School of Medicine halten es dem Tagesspiegel zufolge nun für notwendig, der Öffentlichkeit besser zu kommunizieren, wie unsicher viele ernährungswissenschaftliche Ergebnisse tatsächlich sind. Und ein Experte der Freien Universität Brüssel meinte laut der FAZ (25.10.2019), man sollte aufhören, nährstoffreiches rotes Fleisch zum Sündenbock für falsche Ernährung zu machen.

Steckbrief

Journal: Annals of Internal Medicine

Pressemitteilungen: Ja (von der Fachzeitschrift, vom Forschungsinstitut)

Aufgegriffen von:

  • Spiegel Online (30.09.2019)
  • Tagesspiegel Online (30.09.2019)
  • aerzteblatt.de (01.10.2019)
  • AFP: Neue Westfälische online (01.10.2019), Rheinische Post online (01.10.2019), Stuttgarter Zeitung online (01.10.2019), Wiener Zeitung (01.10.2019)
  • Business Insider Deutschland Online (01.10.2019)
  • DiePresse.com (01.10.2019)
  • dpa: Berliner Zeitung online (01.10.2019), N-tv.de (01.10.2019), Welt online (01.10.2019), Tages-Anzeiger online (02.10.2019)
  • Stern Online (01.10.2019)
  • Zeit Online (01.10.2019)
  • BR (02.10.2019)
  • Neue Zürcher Zeitung Online (02.10.2019)
  • Süddeutsche Zeitung Online (02.10.2019)+
  • Watson.ch (03.10.2019)
  • Wize.life (04.10.2019)
  • Focus Online (11.10.2019)
  • Zeit Online (15.10.2019)
  • taz.de (17.10.2019)
  • NDR (22.10.2019)
  • Frankfurter Allgemeine Zeitung Online (25.10.2019)
  • Frankfurter Allgemeine Zeitung Online (18.11.2019

 

*Protokoll: Hendrik Boldt

 

1 Die Vorhersage der Auswahl von Themen seitens der Journalisten gleicht dem täglichen Blick in die Glaskugel. Haben Journalisten das entsprechende Fachjournal auf dem Schirm? Werden sie das Thema aufgreifen und berichten? Wenn ja: mit welchem Dreh? Wenn nein: Kann es sein, dass wichtige entscheidungsrelevante Forschungsergebnisse, über die berichtet werden sollte, übersehen werden? Im Science Media Newsreel dokumentiert das Team des SMC einmal pro Woche rückblickend die kongruenten Wissenschaftsthemen, die aus namentlich genannten Fachzeitschriften in Presseerzeugnissen und Internetangeboten aufgegriffen wurden. Erwähnt werden nur solche Themen, die bei unserem zugegeben unvollständigen Monitoring in mehr als fünf unterschiedlichen Redaktionen mit textlich nicht identischen Berichten aufgegriffen wurden.