Ein Wochenrückblick des Science Media Center, über welche Forschungsergebnisse viele Wissenschaftsjournalisten zeitnah berichten:

Je mehr Geld im gefundenen Portemonnaie ist, desto eher geben wir es zurück – und zwar weltweit (Science)

Ein riesiges sozialwissenschaftliches Experiment, das weltweit in 355 Städten und 40 Ländern ungefähr 17 000 Mal durchgeführt worden ist, zeigt Erstaunliches: Je mehr Geld sich in einem gefundenen Portemonnaie befindet, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es dem Besitzer zurückgegeben wird. Zwar ist die Rückgabe-Quote global sehr unterschiedlich ausgefallen – von unter zehn Prozent in China bis über 70 in der Schweiz für Brieftaschen ohne Geld. Dennoch ist sie fast überall mit mehr Geld statistisch signifikant angestiegen und nirgendwo signifikant gesunken.  In den Experimenten hatten Helfer*innen vorgegeben, eine Brieftasche gefunden zu haben. Unter dem Vorwand, in Eile zu sein, hatten sie diese an Rezeptionen öffentlicher Anlaufstellen wie der Polizei oder einem Postschalter überreicht. Die Brieftaschen sind durchsichtig gewesen, sodass der Wert des enthaltenen Geldes evident gewesen ist. Zudem haben sie Kontaktdaten des alten Besitzers enthalten. Wenn innerhalb von 100 Tagen Kontakt aufgenommen worden ist, haben die Wissenschaftler unter Leitung der Universität Zürich den Rückgabeversuch gezählt. In ihrer Studie, die am 05.07.2019 im Fachblatt Science veröffentlicht worden ist, nennen sie zwei Gründe für den Anstieg der Rückgabe-Quote. Zum einen zeigten ihre Daten eine altruistische Motivation. Wenn der Verlust für den Besitzer der Brieftasche sich erhöhe, testbar durch das Hinzufügen eines Schlüssels – der nur für den Besitzer wertvoll sei – erhöhe sich die Quote. Zweitens könne der Wunsch, sich nicht selbst als Dieb wahrzunehmen, verantwortlich sein. Diese negative Selbstwahrnehmung steige laut Umfragen besonders mit der Höhe des Geldes an.

Die Studie hat ein breites Medienecho ausgelöst und ist mindestens sechzehn Mal unabhängig voneinander von deutschsprachigen Medien berichtet worden. Werden die vielfach übernommenen dpa-Meldungen einzeln gezählt, so kommt man auf mindestens 115 Berichte unter anderem beim Focus, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bei Spiegel Online, Stern, dem Tagesspiegel, der Welt und in vielen Regionalzeitungen. Das Science Media Center Germany (SMC) hat eigens eine statistische Analyse der Studiendaten durchgeführt. Dabei hat das SMC Lab berechnet, in welchen Ländern mehr Geld in der Brieftasche statistisch signifikant die Rückgabe-Quote erhöht hat. Die Ergebnisse dieser Analyse sind bei aerzteblatt.de aufgegriffen worden. Zudem hat das SMC drei an der Studie unbeteiligte Expert*innen zu den Ergebnissen interviewt, die allesamt zitiert worden sind. So ist der SMC-Experte der US-amerikanischen Princeton University von der dpa zitiert worden. Er lobte die Studie als herausragend. Und der SMC-Experte der Harvard University ist vom Ärzteblatt wiedergegeben worden. Seiner Meinung nach sind die Ergebnisse sehr überraschend. Ebenfalls vom Ärzteblatt und zusätzlich im Standard ist der SMC-Experte der britischen University of Nottingham zitiert worden. Dieser kritisierte im Lichte der Studienergebnisse das Modell des homo oeconomicus und den Glauben ökonomischer Expert*innen daran. Zudem erklärte er, die Unterschiede zwischen den Ländern ließen sich aus den Studiendaten nicht abschließend klären. Es sei aber naheliegend, dass Ehrlichkeit dort verbreiteter sei, wo auch sonstige Regelverstöße in geringerem Maße vorkämen. Die Einschätzung eines weiteren unbeteiligten Experten hat die Stuttgarter Zeitung berichtet. Ein Ethiker der Friedrich-Schiller-Universität Jena erklärte dort, Ehrlichkeit gäbe es, weil sie evolutionär einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen stifte. Und der Deutschlandfunk und die Frankfurter Allgemeine Zeitung haben mit einem Studienautoren gesprochen.

Steckbrief

Journal: Science

Pressemitteilungen: Ja (Von der Fachzeitschrift)

  • dpa (20.06.2019):  Spiegel Online (20.06.2019), Aachener Nachrichten (21.06.2019), Badische Zeitung (21.06.2019), Berliner Morgenpost (21.06.2019), BILD (21.06.2019), bild der wissenschaft (21.06.2019), Focus (21.06.2019), Frankfurter Allgemeine Zeitung (21.06.2019), Frankfurter Rundschau (21.06.2019), Kölner Stadt-Anzeiger (21.06.2019), Redaktionsnetzwerk Deutschland [Hannoversche Allgemeine Zeitung (21.06.2019)], Sächsische Zeitung (21.06.2019), Stern (21.06.2019), Stuttgarter Nachrichten (21.06.2019), Süddeutsche Zeitung (21.06.2019), Südwestpresse (21.06.2019), Tagesspiegel (21.06.2019), Tiroler Tageszeitung (21.06.2019), Welt (21.06.2019), Westdeutsche Zeitung (21.06.2019), Swr.de (21.06.2019),
  • Standard (20.06.2019)
  • aerzteblatt.de (21.06.2019)
  • Deutschlandfunk Forschung Aktuell (21.06.2019)
  • Deutschlandfunk Kultur (21.06.2019)
  • Deutschlandfunk Nova (21.06.2019)
  • heute.at (21.06.2019)
  • SDA: Blick.ch (21.06.2019)
  • Stuttgarter Zeitung (21.06.2019)
  • WDR Quarks (21.06.2019)
  • Welt Online [Video] (21.06.2019)
  • Frankfurter Allgemeine Zeitung (22.06.2019)
  • Spiegel Online (22.06.2019)
  • Süddeutsche Zeitung (22.06.2019)
  • Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (23.06.2019)
  • Business Insider Deutschland (24.06.2019)

Sehr kalter Permafrost reagiert überraschend stark auf den Klimawandel (Geophysical Research Letters)

Untersuchungen in der kanadischen Hocharktis zeigen, dass besonders der sehr kalte Permafrost-Boden deutlich schneller auftaut, als es der letzte Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) vorhergesagt hat. Dieser Permafrost-Boden taue schon jetzt so tief, wie es vom IPCC unter Annahme des Representative Concentration Pathway (RCP) 4.5 erst für 2090 projiziert worden ist. Das schreiben Wissenschaftler*innen unter Leitung der University of Alaska Fairbanks in einer Studie, die am 10.06.2019 im Fachblatt Geophysical Research Letters veröffentlicht worden ist. Sie vermuten, dass insbesondere der – mit unter Minus 10 Grad Celsius Durchschnittstemperatur – sehr kalte Permafrost-Boden schlecht gegen eine wärmere Atmosphäre isoliert ist. Denn hier existiere nur ein dünner Oberboden mit wenig Vegetation. Somit reagiere dieser Permafrost stärker als anderswo auf steigende Temperaturen. Die Forscher*innen hatten von 2003 bis 2017 an drei Orten den Permafrost-Boden beobachtet.

Mindestens zehn Mal haben deutschsprachige Medien unabhängig voneinander über die Publikation geschrieben. Oftmals ist sie in längere Berichte zum Klimawandel in Polarregionen eingebettet gewesen. Teils – etwa bei Zeit Online – sind dabei einige andere kürzlich veröffentlichte Forschungsergebnisse beschrieben worden. Kein unbeteiligter Experte ist zur Studie befragt worden.

Steckbrief

Journal: Geophysical Research Letters

Pressemitteilungen: Nein

Aufgegriffen von:

  • Süddeutsche Zeitung Online (17.06.2019)
  • Stern Online (20.06.2019)
  • taz.de (20.06.2019)
  • t-online.de (22.06.2019)
  • Welt (22.06.2019)
  • Tagesspiegel (23.06.2019)
  • Bonner General-Anzeiger (29.06.2019)
  • Zeit Online (30.06.2019)
  • Standard Online (09.07.2019)
  • Stuttgarter Zeitung (09.07.2019)

 

Klimawandel als Ursache: Himalaya-Gletscher schmelzen seit der Jahrtausendwende doppelt so schnell (Science Advances)

Von 2000 bis 2016 hat die Eisdicke der Gletscher des Himalayas im Schnitt um 43 Zentimeter Wasseräquivalent pro Jahr abgenommen, während es von 1975 bis 2000 noch 22 Zentimeter pro Jahr gewesen sind. Somit schmelzen die Gletscher momentan zwei Mal schneller als noch vor wenigen Jahrzehnten. Außerdem ist der Klimawandel die einzig plausible Ursache für den rascheren Rückgang der Gletscher. Bisher ist man sich laut den Studienautor*innen nicht sicher gewesen, ob andere Faktoren im Himalaya wichtiger sein könnten. Zum Beispiel Ruß, der die Gletscher befleckt, oder der Monsun. Doch diese beeinflussen nicht alle Orte gleichermaßen. Sie können daher nicht erklären, wieso der Trend konsistent so unterschiedliche Gletscher betrifft. Außerdem erklären sie nicht den rapiden Anstieg der Schmelzgeschwindigkeit. Dies ist das Ergebnis der Analyse von 650 der größten Gletscher des Himalayas mittels verschiedener Satellitendaten. Zusammen machen diese Gletscher etwa 55 Prozent des gesamten Eisvolumens der Region aus. Ihre Studie haben die Wissenschaftler*innen der Columbia University am 19.06.2019 im Fachmagazin Science Advances veröffentlicht.

Mindestens zwölf Mal ist von deutschsprachigen Medien unabhängig voneinander über die Publikation berichtet worden. Meist ist darauf hingewiesen, dass ohne die Gletscher die Wasserversorgung in der Region gefährdet sei. Zudem sind einige an der Studie unbeteiligte Experten mit ihren Einschätzungen zitiert worden. So hat Spiegel Online einen Experten des Deutschen Geoforschungszentrums GFZ und des französischen Labors für Geophysik LEGOS in Toulouse befragt. Beide bescheinigten, die Studie zeige eine deutliche Gefahr für die Gletscher. Außerdem hat die Agentur Reuters einen Experten der University of Northern British Columbia wiedergegeben. Dieser hat darauf hingewiesen, dass eine veränderte Gletscherschmelze Zeitpunkt und Stärke der Abflüsse in dicht besiedelte Regionen abwandele. Der Deutschlandfunk hat außerdem für Forschung Aktuell ein Interview mit einem Studienautoren geführt.

Steckbrief

Journal: Science Advances

Pressemitteilungen: Ja (vom Forschungsinstitut)

Aufgegriffen von:

  • AFP: N-tv.de (20.06.2019)
  • AP: Redaktionsnetzwerk Deutschland [Kieler Nachrichten (20.06.2019)]
  • Deutschlandfunk Der Tag (20.06.2019)
  • Deutschlandfunk Forschung Aktuell (20.06.2019)
  • Reuters: Neue Zürcher Zeitung Online (20.06.2019)
  • science.ORF.at (20.06.2019)
  • scinexx.de (20.06.2019)
  • Spiegel Online (20.06.2019)
  • SRF.ch (20.06.2019)
  • Stuttgarter Zeitung (21.06.2019)
  • Standard Online (24.06.2019)
  • Zeit Online (30.06.2019)

 

Zwei Stunden Freizeit in der Natur wöchentlich sind assoziiert mit besserer Gesundheit und Wohlbefinden (Scientific Reports)

Fast 20.000 Proband*innen sind von Wissenschaftler*innen befragt worden, wie lange sie sich innerhalb der letzten Woche in ihrer Freizeit in der Natur aufgehalten haben und wie gesund und gut sie sich fühlen. Dabei haben die Forscher*innen festgestellt: Zwischen zwei bis fünf Stunden Natur erhöhen signifikant die selbst eingeschätzte Gesundheit und das subjektive Wohlbefinden. Die Wissenschaftler*innen haben versucht, möglichst für alle anderen Faktoren, die die Resultate verzerren könnten, zu kontrollieren. Jedoch können sie laut eigener Aussage nicht gänzlich ausschließen, ob die physische Aktivität, die in der Natur verübt wird, auch eine Rolle spielt. Oder, ob gesündere und glücklichere Menschen einfach mehr Zeit in der Natur verbringen. In ihrer Studie konnten insgesamt etwa ein Prozent der Unterschiede (Varianz) in Gesundheit und Wohlbefinden durch unterschiedlich lange Zeiten in der Natur erklärt werden. Die Forscher*innen der britischen University of Exeter haben ihre Ergebnisse am 13.06.2019 im Fachblatt Scientific Reports veröffentlicht.

Mindestens fünf Mal ist von deutschsprachigen Medien unabhängig voneinander über die Publikation berichtet worden. Meist ist darauf hingewiesen worden, dass zunächst nur eine Korrelation und keine Kausalität gezeigt worden sei. Unklar sei auch, weshalb genau die Aufenthalte in der Natur gut täten. An der Studie unbeteiligte Expert*innen sind nicht zitiert worden.

Steckbrief

Journal: Scientific Reports 

Pressemitteilungen: Ja (vom Forschungsinstitut)

Aufgegriffen von:

  • Spiegel Online (13.06.2019)
  • Süddeutsche Zeitung Online (13.06.2019)
  • Stern Online (15.06.2019)
  • St.Galler Tagblatt (16.06.2019)
  • Bunte Online (21.06.2019)

 

*Protokoll: Hendrik Boldt

 

1Die Vorhersage der Auswahl von Themen seitens der Journalisten gleicht dem täglichen Blick in die Glaskugel. Haben Journalisten das entsprechende Fachjournal auf dem Schirm? Werden sie das Thema aufgreifen und berichten? Wenn ja: mit welchem Dreh? Wenn nein: Kann es sein, dass wichtige entscheidungsrelevante Forschungsergebnisse, über die berichtet werden sollte, übersehen werden? Im Science Media Newsreel dokumentiert das Team des SMC einmal pro Woche rückblickend die kongruenten Wissenschaftsthemen, die aus namentlich genannten Fachzeitschriften in Presseerzeugnissen und Internetangeboten aufgegriffen wurden. Erwähnt werden nur solche Themen, die bei unserem zugegeben unvollständigen Monitoring in mehr als fünf unterschiedlichen Redaktionen mit textlich nicht identischen Berichten aufgegriffen wurden.