Ähnlich wie Wissenschaftler schaffen Journalisten Verknüpfungen, synthetisieren Fakten und fördern so originelle Einsichten von Christine Mungai

Ich kam auf Umwegen zum Journalismus. Ich war als Kind eine unersättliche Leserin, wuchs in einer Mittelklasse-Familie in Nairobi auf, Bücher dienten mir in Teilen als Rückzugsort in einem schwierigen familiären Umfeld, das durch die Trennung meiner Eltern geprägt war. Ich verbrachte Stunden damit, über Weltkarten zu brüten, obskure Fakten aus Enzyklopädien aufzusaugen, Romane aller Art von Dickens-Klassikern bis hin zu Sweet Valley High zu verschlingen.

Christine Mungai

Wie viele in meiner Generation, die gute Noten hatten, wurde mir geraten, eine Karriere als Wissenschaftlerin anzustreben, wegen der Aussicht auf einen sicheren Arbeitsplatz und wegen des damit verbundenen Prestiges. In meinen Studentenjahren studierte ich Biomedizin und Technologie, was mir zwar einigermaßen gut gefiel, aber ich fühlte mich bald unzufrieden.

Ich hatte das Gefühl, dass eine Laufbahn in der Forschung mir keine Antworten auf die für mich wichtigen Fragen liefern konnte – eine Wissenschaftlerin zu sein bedeutete, die Welt aus einem engen Blickwinkel zu betrachten, an dessen Ende ich mir nur immer mehr Wissen über sehr wenige Dinge aneignen würde. Ich aber war aufgewachsen mit einem großen intellektuellen Appetit und wollte über alle möglichen Dinge, die mich interessierten, mehr wissen. Ich war an einem breiten Allgemeinwissen interessiert und wollte keine Detailspezialistin werden. Dieses Bedürfnis wurde mir sehr deutlich in meinem dritten Studienjahr, als ich Teil eines Teams aus 16 Studenten aus Kenia, Uganda, Tansania, Malawi und Sambia war. Wir nahmen gemeinsam an einer populären TV-Wissens-Spielshow und gewannen dort den ersten Preis.

Ich habe meinen Abschluss in Biomedizin gemacht, aber kurz nach dem Studienende hatte ich die Chance, mich dem leitenden Redakteur der führenden Wochenzeitung Ostafrikas vorzustellen. Mir wurde schnell klar, dass ich an diesem Ort meine persönliche Neugierde und meine wissenschaftliche Ausbildung gut miteinander verknüpfen konnte und dass mein fachlicher Hintergrund mir in einer Nachrichtenredaktion sogar zum Vorteil gereichen würde. Als Wissenschaftlerin konnte ich zwischen einzelnen Fakten in einer neuen Weise Querbezüge herstellen, die für eine Story spannende, belebende Perspektiven eröffneten. Dank meiner Zeit im wissenschaftlichen Labor hatte ich keine Angst davor, Hypothesen über die Natur der Welt aufzustellen. Ich schlug Theorien darüber vor, warum ein bestimmtes Ereignis passierte, und stellte Vermutungen auf, was vielleicht als nächstes passieren würde.

In vielen Newsrooms wäre diese Art des Schreibens als Meinungsbeitrag veröffentlicht worden. Aber meine Redakteure bei The East African veröffentlichten die Texte als Analyse – insofern sie dem dort entscheidenden Kriterium genügten, nämlich dass sie gut recherchiert, durch Daten unterstützt, logisch und in sich konsistent argumentiert waren.

Ich nenne diese Art der Berichterstattung „speculative nonfiction“, und es ist die Art von Journalismus, die mir am meisten Spaß macht. Er ist nicht strikt an die methodische Reinheit gebunden, wie sie für die Wissenschaft gültig ist, und die im Text verfolgten Argumentationslinien bestehen nicht einmal den Test der statistischen Signifikanz. Stattdessen verdichtet die Methode der „speculative nonfiction“ Hinweise und schwache Signale und Indizien zu Geschichten, die in einer rein auf Daten fixierten Perspektive auf die Welt unsichtbar geblieben wären.

Mein größter Stolz während meiner Jahre bei The East African war die Veröffentlichung einer dreiteiligen Serie, die ich 2013 zusammen mit meinem Redakteur Charles Onyango-Obbo, Nieman Fellow im Jahr 1992, verfasst habe. Die Serie spekulierte über die Frage, wo in Zukunft das politische und wirtschaftliche Gravitationszentrums Ostafrikas sein würde. Würde das treibende Zentrum des Landes im Westen liegen, etwa im Kongo mit seinen noch weitgehend ungehobenen Reichtümern – der Wert der kongolesischen Bodenschätze wird auf 24 Billionen Dollar geschätzt, mehr als das kombinierte Bruttoinlandsprodukt Europas und der USA? Oder würde es im Norden sein, im Umfeld der brodelnden Wirtschaft Äthiopiens? Oder liegt es ostwärts, jenseits des Ozeans, wo die aufsteigenden Länder Indien und China versuchen, die ostafrikanische Küste als Brückenkopf für den asiatischen Kontinent zu nutzen?

Wir vermuteten das Zentrum damals im Osten – und sehen heute, dass China ebendort gerade dabei ist, seine erste Übersee-Militärbasis in Obock/Djibouti zu bauen. Gleichzeitig hat sich Äthiopiens Wirtschaft abgekühlt, während die Demokratische Republik Kongo in eine langwierige politische Krise verwickelt ist.

Später, als ich bei Mail & Guardian Africa war, reiste ich nach Abuja, der Hauptstadt von Nigeria, wo ich auf die hohe Zahl verlassener Gebäude aufmerksam wurde, die die großen Autobahnen der Stadt säumten. Auf den ersten Blick könnte man denken, dass diese Baufälligkeit ein Indiz für Verfall und wirtschaftlichem Niedergang ist. Aber es könnte eine alternative Theorie geben. Zu dieser Zeit hatte Nigeria strengere Kontrollen des grenzüberschreitenden Bargeldverkehrs eingeführt. In unserer Berichterstattung formulierten wir die Vermutung, dass verlassene Gebäude ein Zeichen für eine Wirtschaft sein könnte, die mit illegalem Bargeld durchflutet ist – da die Menschen wegen der Geldwäschegesetze ihr gestohlenes Geld nicht mehr in einer Bank stapeln konnten, kauften sie Land und Gebäude, um ihr Geld auf diese Weise zu parken. Sie nutzen also Eigentum als Sicherheit, um sich so weiteres, sauberes Geld von der Bank leihen zu können, ohne Risiko, die Kredite nicht bezahlen zu können.  Wir nannten das den „Verlassene-Häuser-Index“ und schlugen vor, ihn als alternatives „Straßen“-Maß zur Messung der Wirtschaftsleistung zu nutzen, weil offizielle Wirtschaftsstatistiken oft nicht die Realität vor Ort abbilden.

In jüngerer Zeit, bei Africapedia – ein daten- und trendbasiertes Start-Up-Webmedium, bei dem ich jetzt Redakteurin bin –  ging ich der Frage nach, warum es in einigen Gemeinschaften Ostafrikas so schlechtes Essen gibt. Meine kenianische Community ist berüchtigt für ihren Ein-Topf-Kochstil, den viele andere Kenianer für inakzeptabel halten, tatsächlich an ein Sakrileg grenzend. Ich wollte die Witze, Meme und Stereotype über dieses Essen ernst nehmen und versuchen zu verstehen, woher diese schlechte Esskultur stammt.  Meine Theorie ist, dass sozial ungleiche Gesellschaften mit ausgeprägten Klassengegensätzen Anreize bergen, gutes Essen zu kochen – Essen ist eine der Möglichkeiten, zu partizipieren an der der Welt der Könige, der Höfe oder des Sultans. Schlechtes Essen ist deshalb meiner Ansicht nach ein unterbelichteter Indikator für eine relativ egalitäre Gesellschaft.

Ich glaube, das ist es, was Journalismus letzten Endes versuchen muss zu tun – Verknüpfungen herstellen, Fakten synthetisieren und originelle Einsichten liefern, nicht nur Ereignisse aufzeichnen, wie sie geschehen, oder Zitate aus gegnerischen Lagern in einer Debatte präsentieren und es dabei belassen.

Die heutige Gesellschaft ertrinkt in Informationen; niemals zuvor gab es so viel Zugang zu Dingen, die man lesen, sehen und hören kann, nur einen Knopfdruck entfernt. Aber die meisten von uns sind hungrig nach Einsicht und Bedeutung. Nachrichtenmedien tragen die Verantwortung, die Menschen auch jenseits der bloßen Fütterung mit Neuigkeiten mit jenem Wissen zu versorgen, das ihnen hilft, die Welt zu verstehen, in der sie leben.

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Das Nieman Fellowship http://nieman.harvard.edu/fellowships/ der Harvard University ermöglicht alljährlich 24 Journalisten aus aller Welt einen zweisemestrigen Studienaufenthalt in Harvard. Die kenianische Wissenschaftsjournalistin Christine Mungai, Nieman Fellow 2018, hat in einem autobiografischen Beitrag für den Nieman Report http://niemanreports.org/articles/the-science-of-journalism/ beschrieben, wie sie zum Journalismus gekommen ist und mit welcher Intention sie diesem Beruf nachgeht.

Meta hat den lesenswerten Text ins Deutsche übertragen. Christine Mungai macht in ihrem Beitrag sehr anschaulich, welche immense Bedeutung Wissenschaftsjournalismus in einer modernen Gesellschaft zukommt. Gerade weil dieser Journalismus nicht Wissenschaft sein will, aber fest verwurzelt ist in den Intentionen einer wissensbasierten Tradition der Aufklärung, erschließt die Autorin mit ihrer originär journalistischen Arbeit unverzichtbares Orientierungswissen. Journalismus, wie Christine Mungai ihn versteht, wird im Idealfall zum evidenzbasierten Frühwarnsystem für gesellschaftliche Fehlentwicklungen, die andere Teilsysteme der Gesellschaft nicht sehen können. Journalismus, schreibt Mungai, dient dazu, Menschen mit „jenem Wissen zu versorgen, das ihnen hilft, die Welt zu verstehen, in der sie leben.“