Der Wissenschaft geht es um die Wahrheit, den Massenmedien um Aufmerksamkeit! Das ist das Credo des berühmten Bielefelder Soziologen. Aber so einfach ist es nicht. Über die Konvergenz von Wissenschaft und Journalismus. VON GÁBOR PAÁL
Ein Grummeln über bedenkliche Entwicklungen der Wissenschaftskommunikation war schon geraume Zeit vernehmbar. Doch im vergangenen Jahr brach es an verschiedenen Stellen aus. Der Nobelpreisträger Randy Shekman klagt, dass die großen Fachzeitschriften eingereichte Artikel zunehmend mit Blick auf massenmediale Wirkung auswählten und nicht nach wissenschaftlicher Relevanz. Der Wissenschaftssoziologe Peter Weingart geht noch weiter: Nature orientiere sich inzwischen so stark an den Vorlieben der Massenmedien, dass bereits Rückwirkungen auf die Forschung erkennbar seien, erklärte er im SWR2 Forum. Das war kurz bevor die unter seiner Federführung entstandenen und viel diskutierten „Empfehlungen“ erschienen. Eine konkrete Folge der gegenwärtigen Veröffentlichungspraxis: Studien werden immer seltener überprüft und Experimente seltener repliziert, weil die unabhängige Wiederholung eines Experiments oder das schlichte Überprüfen einer theoretischen Vorhersage keine Schlagzeilen bringt. Die Logik: Wer die Ergebnisse anderer nur bestätigt und Theorien lediglich erhärtet, hat ja eigentlich nichts wirklich Neues zu erzählen.
Folgt der Wissenschaftsbetrieb somit heute den Gesetzen der Massenmedien? Diese Frage drängt sich auf, ergibt jedoch nur dann einen Sinn, wenn es früher grundsätzlich anders gewesen wäre. In der Theorie war das der Fall, insbesondere in der Theorie Niklas Luhmanns. Dass ich auf Luhmann komme, ist einem Vortrag zu verdanken, zu dem ich vor einiger Zeit eingeladen wurde. Thema war das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Medien. Ich sprach über die Unterschiede und über die Gemeinsamkeiten beider Systeme, und dass zu letzteren auch die Suche nach einer wie auch immer gearteten „Wahrheit“ gehört. Am Ende des Vortrags wurde mir Luhmann entgegengehalten, der das doch längst widerlegt hätte. Mich traf der Einwand unvorbereitet. Nachdem ich bald bemerkte, dass es auch unter Kollegen noch immer eine gewisse Luhmann-Fangemeinde gibt, wollte ich mitreden können. Zwar hatte ich mich während meines Studiums ein wenig mit Luhmann befasst, aber das war lange her. Ich nahm mir also die beiden Bücher vor, in denen Luhmann die Wissenschaft und die Massenmedien als weitgehend eigenständige und voneinander verschiedene soziale Systeme beschrieb: Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990) sowie Die Realität der Massenmedien (1996). Wer diese Bücher heute mit zeitlichem Abstand kritisch liest, muss zum Ergebnis kommen: die Unterschiede, die Luhmann heraus gearbeitet hat, sind heute längst überholt. Oder aber seine Kernthesen waren von Anfang an falsch.
„Massenmedien“ – im Internet-Zeitalter wirkt schon der Begriff altmodisch. Luhmann bezeichnete damit zunächst (Realität, S. 10) „alle Einrichtungen der Gesellschaft … die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung bedienen … sofern sie Produkte in großer Zahl mit noch unbestimmten Adressaten erzeugen.“ Diese Definition klingt scharf – doch Luhmann geht mit ihr auffallend inkonsistent um: Zunächst nennt er als wichtigste Produkte Bücher und Zeitschriften. Seine Thesen entwickelt er dagegen vor allem aus Beispielen aus dem Rundfunk. Etwa wenn er die Rhythmisierung der Kommunikation – vulgo: feste Sendezeiten – als Merkmal der Massenmedien identifiziert.
Ein weiteres Merkmal der Massenmedien sei, „dass keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sendern und Empfängern stattfindet“. Es ist offensichtlich, dass dies in großen Teilen der Massenmedien nicht mehr gilt.
Wenn Luhmann von „Massenmedien“ spricht, meint er eigentlich nur den Nachrichtenjournalismus
In seinem Buch handelt Luhmann nacheinander Nachrichten, Unterhaltung und Werbung ab. Doch was er über die Massenmedien im Allgemeinen zu sagen hat, macht er fast ausschließlich an Nachrichten und aktueller Berichterstattung fest. Der Unterhaltung und der Werbung widmet er eigene Kapitel, weil er einsieht, dass für sie spezifische – um nicht zu sagen: andere – Gesetzmäßigkeiten gelten. Über Kultur- und Bildungsangebote äußert er sich seltsamerweise gar nicht. Er beschreibt also, wenn überhaupt, nicht die Massenmedien als ein System, sondern den (Nachrichten-)Journalismus. Überhaupt: sind Verlage und Rundfunkanstalten – die Anbieter von Massenkommunikation (zu Luhmanns Zeiten) wirklich soziale Einheiten – oder nicht eher wirtschaftliche?
Luhmann überzeugt dort, wo er Parallelen zwischen Wissenschaft und Medien erkennt – etwa in der Realitätskonstruktion: „Unsere Frage … lautet nicht: Wie verzerren die Massenmedien die Realität durch die Art und Weise ihrer Darstellung? Denn das würde ja eine … objektiv zugängliche, konstruktionsfrei erkennbare Realität voraussetzen. Wissenschaftler mögen zwar durchaus der Meinung sein, dass sie die Realität besser erkennen als sie in den auf ‚Popularisierung‘ verpflichteten Massenmedien dargestellt wird. Aber das kann nur heißen: die eigene Konstruktion mit einer anderen vergleichen.“
Ebenso richtig analysiert Luhmann „Themenkarrieren“ (S. 28) und stellt fest (S. 30), dass Massenmedien nicht zwangsläufig der Wahrheit verpflichtet sind. Ein Massenmedium kann auch falsche Informationen bringen, wenn es „die Funktion im Auge behält und den Sensationswert gegen das Risiko möglicher Aufdeckung abwägt“. Das stimmt zweifellos – ist aber nun wahrlich kein Privileg der Massenmedien, sondern gilt genauso für Politiker, für Gerichts-Zeugen und natürlich: für Wissenschaftler. Und hier beginnt der grundsätzliche Fehler in Luhmanns Ansatz, der in der Annahme besteht, den Medien eine grundsätzliche andere Funktionslogik zu unterstellen als der Wissenschaft.
Nach Luhmanns Theorie zeichnen sich verschiedene soziale Systeme (neben Wissenschaft und Massenmedien sind das z.B. die Justiz, die Politik, die Kunst oder die Religion) durch jeweils eigene binäre Codes aus. Der Code bestimmt die Kommunikation, er entscheidet über die Anschlussfähigkeit von Operationen innerhalb des Systems, d.h. „womit es etwas anfangen kann“. In der Justiz ist der Code „Recht/Unrecht“, in der Politik ist es die Macht (Regierung/Opposition), in der Wirtschaft das Geld (Haben/Nicht-Haben). In der Wissenschaft wiederum sei dieser Code „wahr/falsch“, in den Massenmedien sei es „Information/Nicht-Information“. Luhmann führt im Weiteren aus, dass sich „Information“ in diesem Sinne weitgehend mit dem deckt, was die Alltagssprache mit Begriffen wie „alt/neu“ oder „überraschend/nicht-überraschend“ beschreibt.
Aus heutiger Sicht erstaunt es, wie einfach Luhmann es sich hier macht, und wie leichtfertig er einige systemtheoretische Binsenweisheiten ignoriert. So kommt ihm offenbar gar nicht in den Sinn, dass diese beiden Codes – oder Kategorien – in beiden Systemen nebeneinander existieren können. Dass also sowohl Wissenschaft als auch der Journalismus zunächst einmal grundsätzlich wahrheitsgeleitet sind und in beiden Systemen die Kategorie der Information – oder eben Neuheit – in der jeweils systemimmanenten Kommunikationen eine gewisse Rolle spielt.
In Journalismus und Wissenschaft sind altbekannte Wahrheiten und falsche Neuigkeiten von mäßigem Interesse
Luhmann fällt auch nicht auf, dass diese beiden Kategorien verschiedenen logischen Ebenen angehören. „Wahrheit“ ist eine Qualität, die – zunächst zeitlos – einer Aussage zugeschrieben wird, losgelöst davon, wer sie wann zur Kenntnis nimmt. Information/Neuheit dagegen ist ein flüchtiger Wert innerhalb eines individuellen Erkenntnisprozesses. Heißt: Eine Aussage ist nie per se neu oder alt. Die Neuheits-Erfahrung besteht vielmehr im Vorgang des Lernens, Entdeckens, Zur-Kenntnis-Nehmens. Die Information/Neuheit kann auch darin bestehen, eine vermeintliche Wahrheit als Unwahrheit zu entlarven.
Insofern ist es fast schon zwingend, dass jedes erkenntnisgeleitete System beide Codes verwenden muss. Sowohl die Wissenschaft wie auch der Journalismus sind erkenntnisgeleitete Systeme. Sie haben zweifellos unterschiedliche Relevanz- und Wahrhaftigkeitskriterien, aber beide haben sich ideell der Suche nach Wahrheiten verschrieben, indem sie recherchieren/forschen und publizieren und dabei möglichst interessante Fragen an die Welt stellen. Innerhalb der Kommunikation beider Systeme sind altbekannte Wahrheiten von ebenso mäßigem Interesse wie falsche Neuigkeiten.
Luhmann räumt zwar ein (Wissenschaft, S. 274) „daß von ‚Wahrheit‘ auch außerhalb des Wissenschaftssystems die Rede ist … Politiker oder auch Künstler sprechen von Wahrheit, um Achtung und Beachtung zu gewinnen. Wahrheit dient als Verstärkersymbol.“, um dann jedoch zu behaupten: „Aber nur in der Wissenschaft geht es um codierte Wahrheit, nur hier geht es um Beobachtung zweiter Ordnung, nur hier um die Aussage, daß wahre Aussagen eine vorausgehende Prüfung und Verwerfung ihrer etwaigen Unwahrheit implizieren“. Und das soll im Journalismus nicht gelten? Und was ist mit polizeilich-juristischer Ermittlungsarbeit, dem dritten großen erkenntnisgeleiteten, „wahrheits-codierten“ System?
Haben Journalisten überhaupt einen anderen Wahrheitsbegriff als Wissenschaftler? Kaum: sie haben allenfalls andere Kriterien, um Dinge für hinreichend belegt zu halten, um über sie zu berichten. Was aber hauptsächlich daran liegt, dass sie über andere Arten von Dingen berichten. Die Gegenstände journalistischer Berichterstattung sind meist idiographischer Natur: es handelt sich um einzelne Begebenheiten und deren Hintergründe. Die Wissenschaft dagegen ist stärker an verallgemeinerbaren Zusammenhängen interessiert. Aber auch diese Regel kennt viele Ausnahmen auf beiden Seiten. Vermutlich unterscheiden sich die Evidenz-Kriterien zwischen Journalismus und Wissenschaft im Mittel weniger stark als die zwischen einer Historikerin, einem Germanisten, einem Biologen und einer Astrophysikerin.
Journalismus und Wissenschaft kämpfen mit Rahmenbedingungen, die der Wahrheitssuche gelegentlich abträglich sind
Durch die kommunikative Brille betrachtet, besteht der Hauptunterschied zwischen Wissenschaft und Journalismus in den publizistischen Zeitskalen und den Zielgruppen. Die Themen von Journalisten wechseln schnell, die von Wissenschaftlern langsam. Journalisten publizieren für viele, Wissenschaftler für eher wenige. Fast alles Weitere folgt daraus. Journalistische Neuigkeiten werden schneller alt als wissenschaftliche – aber das ändert nichts daran, dass Neuheit in beiden Systemen einen Wert darstellt. Journalisten vereinfachen stärker und haben andere Erzählformen – was aber nicht heißt, dass sie im Rahmen des Welt-Ausschnitts, den sie betrachten, keinen Wahrheitsanspruch hätten.
Beide Systeme kämpfen zudem mit immer schwierigeren Rahmenbedingungen, die dann gelegentlich auch den hehren Wahrheitsanspruch gefährden. Journalisten wie Wissenschaftler haben schließlich neben der Wahrheitsfindung auch andere legitime Interessen: öffentliche Anerkennung, finanzielle Absicherung (in beiden Systemen sind dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse rar geworden), institutionelle Selbsterhaltung, vielleicht auch Macht oder Weltverbesserung. Auch haben sich in beiden Systemen quantifizierbare Währungen entwickelt: Quoten/Auflagen im Journalismus, Zahl der Publikationen/Zitierhäufigkeit/Impact Factor in der Wissenschaft. Diese Interessen gehören nicht zu den systemimmanenten Codes, weshalb insbesondere die genannten Erfolgs-Maßeinheiten in beiden Systemen auch immer wieder kritisiert und problematisiert werden.
All diese Parallelen zwischen den Systemen sind es auch, die uns Wissenschaftsjournalisten eine gewisse Sonderrolle verleihen. Anders als Wirtschafts-, Politik-, Umwelt-, Sport- oder Boulevardjournalisten folgen wir prinzipiell dem gleichen Code wie unser Berichtsgegenstand. Politikerinnen oder Verbandsfunktionäre werden meist in einer eher konfrontativen Grundhaltung befragt. Wissenschaftler dagegen fungieren in den Medien meist als Experten, die der Wahrheitsfindung dienen sollen. In diesem abstrakten Sinn ziehen wir mit ihnen an einem Strang. Nur deshalb konnte ja auch das Missverständnis erst aufkommen, dass Wissenschaftsjournalisten so etwas seien wie die Volks-Vermittler der Wissenschaft. So haben sie wohl mal angefangen, heute sind sie es immer weniger. Nicht, weil sie nicht an der wissenschaftlichen Wahrheit interessiert wären. , sondern vor allem wegen der oben genannten „nicht-codierten“ Interessen der institutionalisierten Wissenschaft, die manchmal dem idealisierten Wahrhaftigkeitsstreben entgegen stehen.
Konvergenz statt Ausdifferenzierung
Fazit: Statt einer immer weiteren „Ausdifferenzierung“ der Systeme, wie Luhmanns Theorie sie konstatiert, ist in Bezug auf Wissenschaft und Journalismus eher eine Konvergenz zu beobachten.
Zum einen eine Konvergenz in der Publikationspraxis. Dies belegt nicht nur die erwähnte Klage über wissenschaftliche Sensationsgeilheit, sondern auch die Vernischung journalistischer Produkte im Internet. Der Online-Journalismus wie auch die Online-Verbreitung von Rundfunk- und Printberichten führt auch dazu, dass diese nicht wie früher am nächsten Tag vergessen und versendet sind, sondern „bis in alle Ewigkeit“ im Netz archiviert bleiben. Dies beeinflusst durchaus auch das Schreiben von Artikeln. Ich texte anders, wenn ich weiß, dass mein Beitrag noch in fünf Jahren auffindbar ist.
Eine Annäherung von Wissenschaft und Journalismus findet sich aber auch in den Recherchemethoden: Datenjournalisten etwa verwenden Werkzeuge, die schon recht nahe an wissenschaftlichen Methoden sind. (Im investigativen Journalismus wiederum gibt es Überschneidungen mit den Methoden strafrechtlicher Ermittler).
Um nicht falsch verstanden zu werden: Luhmann zu lesen, ist anregend. Journalisten, die noch nichts von ihm kennen, werden in der „Realität der Massenmedien“ auf interessante und für sie auch heute noch neue (!) Gedanken stoßen. Sie sollten sich nur nicht einreden lassen, dass „die Massenmedien“ zwangsläufig so sein müssen, wie er sie beschreibt. Aber seine Bücher lohnen sich schon wegen des ihm eigenen Humors:
„Selbstverständlich ist auch die Information, etwas sei keine Information, informativ. … Das Problem des unendlichen Regresses stellt sich aber nur auf der Suche nach Letztbegründungen, und dazu hat das Mediensystem ohnehin keine Zeit.“
Was zu widerlegen war.
Gábor Paál ist Redakteur und Moderator beim SWR2 in Baden-Baden sowie gelegentlich als freier Journalist oder ARD-Sonderkorrespondent tätig. Follow @GaborPaal
Kommentare
Florian Fisch schreibt:
27. November 2014 um 10:25 Uhr
Vielleicht unterscheidet die zwingende Angabe eines Publikationsdatums die Wissenschaft vom Journalismus…
Im Ernst: Wenn sich tatsächlich die Wissenschaft dem Journalismus annähert, dann wäre dies das Ende der Wissenschaft. Wahrheit wollen alle (nicht nur Wissenschaftler und Journalisten), nur geniesst die Suche nicht bei allen die gleiche Priorität. Das mag eine reine Zeitfrage sein, ist aber ein immenser Unterschied.
Hans von Storch schreibt:
3. Dezember 2014 um 09:20 Uhr
Gut beobachtet, sauber analysiert. Passt sehr gut zu meinen langjährigen Erfahrungen als Klimawissenschaftler mit Kollegen und mit Journalisten.
David Hönscher schreibt:
14. Dezember 2015 um 05:58 Uhr
Wo GÁBOR PAÁL sich verrannt hat: In seinem irreführenden Verständnis der Luhmannischen Theorie. Als Soziologie beobachtet Luhmann nämlich einzig und allein Kommunikation, die selbstreferenzielle, soziale Systeme wie die Wissenschaft oder Massenmedien konstituieren – und gerade nicht: Menschen. Die sind Umwelt für die jeweiligen Systeme. Ob eine ursprüngliche Kommunikation als wissenschaftlich oder massenmedial verstanden und weiterbehandelt wird, entscheidet sich über deren weitere Anschlüsse. Wenn der veröffentlichte Artikel in der Bild-Zeitung beispielsweise auch zum Beitrag in der Nature wird, schließt die Anschlusskommunikation im Wissenschaftssystem über den Code wahr/unwahr an. Das ist die Leitdifferenz, aber nicht die einzig relevante Unterscheidung im Wissenschaftssystem! Es mag ja sein, dass auch die Massenmedien ihre Kommunikation als wahr behaupten mögen. Innerhalb der Wissenschaft ist ihre Irritationsfähigkeit gering. Und nur dort wird über wissenschaftliche Wahrheit entschieden.
Alina schreibt:
29. August 2021 um 06:36 Uhr
Danke, Sie haben mir den Kommentar erspart 😉
Lou Mann schreibt:
17. November 2022 um 02:37 Uhr
Luhmann ist ein Scharlatan. Er ist in gewisser Weise der Prototyp „Wissenschaftler“, der im Sokal-Hoax parodiert wurde. Luhmann benutzt zwar Wissenschafts-Sprache, aber seine „Theorie“ genügt wissenschaftlichen Standards nicht. Es ist schockierend, wie wenige das anprangern. Noch schockierender ist, dass sich um seine Person sogar ein Kult etabliert hat. Je unverständlicher sich jemand ausdrückt, desto fanatischer wird er vergöttert. Es ist absurd.
„Tief sein und tief scheinen. Wer sich tief weiß, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit. Denn die Menge hält alles für tief, dessen Grund sie nicht sehen kann: sie ist so furchtsam und geht so ungern ins Wasser.“ — Nietzsche in „Fröhliche Wissenschaft“
A. Krüger schreibt:
27. Juni 2023 um 02:31 Uhr
Gabor Paal: „Was zu widerlegen war“ – ist hier keinesfalls widerlegt. Leider erweckt der durchaus interessante Artikel den Eindruck, dass der Autor seinen Gegenstand, Luhmanns Theorie, kaum ansatzweise verstanden hat, und letztlich auch nicht das letzte Zitat, dessen Behauptung er widerlegt zu haben glaubt.
Es ist schier unmöglich, die ganzen Missverständisse und falschen Wiedergaben der luhmann’schen Thesen auseinanderzupflücken, aus denen sich der Text zusammensetzt. Hinzu kommen verschiedenste Arten logischer Fehlschlüsse. Wenn Sie allein das o.g. Zitat ansehen: IHR Text behauptet doch gerade (und impliziert dabei Nachrichtenwert), dass Luhmanns Text eigentlich KEINEN Informationsgehalt hat, weil er das Verhältnis von Wissenschaft und Massenmedien völlig falsch geschreibe. Und weiter: Wie sieht es in ihrem Text aus mit der Letzbegründungs-Problematik? Merkste selbst, oder?
Bemerkenswert finde ich etwa die Behauptung, Luhmann falle „nicht auf, dass diese beiden Kategorien verschiedenen logischen Ebenen angehören“. Damit geben sie Luhmanns Text schlicht falsch wieder. Luhmanns Terminologie, und damit die Verhältnisse zwischen den „Begriffs-Kategorien“, unterliegen doch ganz klar Luhmanns eigener Definitionshoheit. Ob dem Journalisten dieser Begriffsgebrauch einleuchtet, ist dabei völlig irrelevant, genauso der alltägliche Sprachgebrauch, der sich (meist stark) vom Wissenschaftsjargon unterscheidet – was aufzudecken vorzügliche Aufgabe von Wissenschaftsjournalist:innen sein sollte, IMHO. „Und wie leichtfertig er einige systemtheoretische Binsenweisheiten ignoriert“: welche denn genau? Die Existenz von Zweitcodierungen betont Luhmann an vielen Stellen (vielleicht nicht im hier vom Autor geforderten Sinn). Dass „die Kategorie“ (ihr Begriff) der Information im Wissenschaftssystem „eine gewisse Rolle spielt“ würde Luhmann niemals bestritten haben (siehe etwa Beobachtungstheorie), nur eben nicht als Leitcodierung des Funktionssystems (wenn diese Theoriekonstruktion dem Autor nicht gefällt, sollte er dies genauer begründen; ich fürchte, er versteht das Konzept der Leitcodierungen nicht, und ich bezweifle, dass „Information“ im von Luhmann definierten(!) Sinn auch kaum jemandem als Leitcodierung des Wissenschaftssystems einleuchten würde).
FÜr mich überraschend argumentiert der Autor mit dem Begriff „erkenntnisgeleiteter Systeme“, ohne zu erklären, wo er diesen Begriff hernimmmt und wie er ihn definiert. Von Luhmann ist er mir nicht bekannt (das mag an mir liegen, Sie hätten ja einen Beleg nennen können). Sofern scheint der Autor eine eigene (oder woanders entlehnte) Vorstellung von Systemtheorie zu haben, an der er Luhmanns misst und als widerlegt ansieht. Es fehlt mir ein Beleg nach wissenschaftlichen Kriterien.
Hier liegt m.E. das große Problem des Textes: Der Autor hätte gerade von Luhmann etwas lernen können über den Unterschied wissenschaftlicher von Wissenschaftsjournalistischen Publikationen (auch, ganz anderes Beispiel: über die Kommunikation unter Anwesenden versus Kommentarspalte). Gerade dass er diesen Unterschied nicht zu verstehen oder sich selbst in der Lage, diesen überschreiten zu können, zu sehen scheint, schwächt sowohl seine Fähigkeit, über wissenschaftliche Erkenntnisse kenntnisreich zu berichten, als auch, diese angemessen einzuordnen und zu kritisieren.
Ich bin keine Wissenschaftsjournalistin und mit deren Arbeitsweisen nicht gut vertraut, aber als Leserin erwarte ich, wenn mir ein journalistischer Artikel berichtet, ein gemeinhin als anerkannt geltender Wissenschaftler habe sich „verrannt“: Dass der Artikel zumindest andere, nach wissenschaftlichen Kriterien anerkannte wissenschaftliche Arbeiten berichtet, die eben dieses begründet belegen. Es reicht mir nicht, dass ein Journalist, der im Studium mal bisschen mit einem wissenschaftlichen Gegenstand in Berührung gekommen ist, abends selbst Wissenschaft spielt, ein paar Bücher querliest, dann eine pseudo-wissenschaftliche Widerlegung wissenschaftlicher Arbeiten als journalistische Nachricht (erst recht nicht: Wahrheit oder Erkenntnis) vorlegt. So geht weder Wissenschaft, wie Sie es mit Ihrer vorgeblichen „Falsifikation“ am Schluss suggerieren, noch Wissenschaftsjournalismus, der m.E. wissenschaftliche Kommunikation in erster Linie „verstehend“ nachvollziehen und für ein Laienpublikum verstehbar berichten sollte. Der Autor scheitert an beidem: Das erste ist insofern entschuldigt, als dass er ja kein Wissenschaftler ist. Doch es wird gerade dadurch schwierig, dass er zumindest so tut und damit seine Rolle als Journalist völlig verkennt.
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