Im Prozess von L’Aquila wurden Forscher verurteilt, weil sie das Erdbebenrisiko nicht ausreichend vermittelt haben, so der Richter. Das Urteil wirkt konstruiert, weil die Sichtweise undifferenziert ist, kommentiert SVEN TITZ.

(Photo credit: CC BY NC SA 2.0: catcchurch/flickr)

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Der Prozess von L‘Aquila, in dem im Oktober 2012 sechs Erdbebenexperten und ein hoher Beamter zu sechs Jahren Haft und Strafzahlungen in Millionenhöhe verurteilt wurden, stellt deutsche Beobachter vor Rätsel. Es scheint, als habe man in Italien Seismologen angeklagt, weil sie keine Erdbeben vorhersagen konnten. Absurd! Vielleicht war es aber anders. Nur: Was zum Teufel soll dann das Vergehen der Wissenschaftler gewesen sein?

Die komplette Geschichte ist lang und verzwickt. Die Kurzversion: Anfang 2009 wackelt in L‘Aquila mehrmals leicht die Erde. Ein Amateurforscher gibt diffuse Warnungen vor einem schweren Beben heraus. Manche Einwohner verlassen die Stadt. Für den 31. März 2009 organisiert der Katastrophenschutz eine Sitzung der italienischen „Kommission für Großrisiken» in L‘Aquila. Während der Sitzung sagen Kommissionsmitglieder, der Erdbebenschwarm sei ein normales geologisches Phänomen, doch sie erwähnen auch, dass die Region bekanntermaßen ein vergleichsweise hohes Bebenrisiko hat.

Vor und nach der Sitzung geben Mitglieder der Kommission Interviews. Bernardo de Bernardinis, Vize-Direktor des Katastrophenschutzes, sagt beruhigend, der Erdbebenschwarm habe laut Kommission das Risiko für Beben gesenkt.

Eine Woche später kommen bei einem Beben in L‘Aquila mehr als 300 Menschen ums Leben. Etwa 30 von ihnen sind mutmaßlich wegen der fachlichen Entwarnung in die Stadt zurückgekehrt oder haben wegen der Entwarnung nicht im Freien geschlafen, wie sie das sonst getan hätten. Die Urteilsbegründung des Richters Marco Billi ist über 800 Seiten lang. Das Vergehen der Fachleute, so Billi, hat mit der Aufgabe der Risikokommission zu tun. Das Gremium soll Risiken analysieren und der Öffentlichkeit vermitteln. Diese Aufgabe hat die Kommission in L‘Aquila dem Richter zufolge verfehlt. Stattdessen habe sie unklare, unvollständige und widersprüchliche Informationen herausgegeben. Darum verurteilte der Richter die Fachleute der Kommissionssitzung wegen fahrlässiger Tötung. Den Vorwurf, sie hätten das starke Beben vorhersehen müssen, erhebt Billi nicht.

Katastrophenschutz trägt mehr Verantwortung als Seismologen

Nun ist zu differenzieren. Verurteilt wurden sowohl Mitglieder des Katastrophenschutzes als auch Wissenschaftler. Billi hat sie über einen Kamm geschoren, weil alle an der Sitzung der Risikokommission teilnahmen. Darum müssen sie aus seiner Sicht gemeinsam die Verantwortung für das Resultat der Sitzung tragen, also für die fatale Entwarnung. Doch es waren nicht die Seismologen, die in L‘Aquila Entwarnung gaben. Für die Entwarnung waren in erster Linie Mitarbeiter des Katastrophenschutzes verantwortlich. Einer ist sogar nie angeklagt worden: Anberaumt hatte die Kommissionssitzung nämlich Guido Bertolaso, der damalige Chef des Katastrophenschutzes. Aus einem mitgeschnittenen Telefonat geht hervor, dass er mit der Veranstaltung in L‘Aquila explizit das Ziel verfolgte, mit Hilfe von Experten Entwarnung zu geben.

Viele Seismologen weltweit sehen die verurteilten Kollegen nun als Sündenböcke. In der Tat wirkt die Urteilsbegründung konstruiert. Aus vielen wackligen Argumentationsgliedern hat der Richter eine verblüffende Kausalkette zwischen dem mutmaßlichen Fehlverhalten der Fachleute und dem Tod von Einwohnern der Stadt L‘Aquila geschmiedet. Viele Beobachter erwarten, dass das Urteil in zweiter Instanz aufgehoben wird.

Was lehrt der Fall? Haben sich die Seismologen doch tadellos verhalten? Werden in Italien jetzt wieder Wissenschaftler verfolgt wie im Mittelalter? Nur nicht so schnell. Sicher: Es wirkt obskur, wenn Wissenschaftler für ihre Expertise in Haftung genommen werden, nur weil sie sich missverständlich ausgedrückt haben und dann noch mutwillig falsch interpretiert werden. Italienische Wissenschaftler fordern zu Recht eine Klarstellung und Verbesserung der Rechtslage für beratende Experten. Sonst besteht künftig die Gefahr, dass überwarnt wird oder dass sich verängstigte Experten gar nicht mehr zur Beratung bereit erklären. Zurzeit ist die wissenschaftliche Politikberatung in Italien ein riskantes Geschäft.

Forscher hätten sich distanzieren sollen

Allerdings: Selbst wenn die Äußerungen der Seismologen in der Kommissionssitzung wissenschaftlich vertretbar gewesen sind – geschickt und verständlich genug waren sie nicht. Die Seismologen hätten gut daran getan, sich in den Tagen nach der ominösen Kommissionssitzung in L‘Aquila öffentlich von dem Eindruck der Entwarnung zu distanzieren (sofern sie davon überhaupt wussten). Aber ist diese Unterlassung justiziabel?

Gegen Bernardo de Bernardinis, eines der beiden verurteilten Mitglieder des Katastrophenschutzes, hätte man vielleicht je nach Rechtslage auch in anderen Ländern Anklage erhoben. Schließlich hat er die Ergebnisse der Kommissionsitzung in einem Interview sinnentstellend wiedergegeben und den Einwohnern sogar empfohlen, nun ruhig ein Glas Wein zu trinken. Wenn Mitarbeiter des Katastrophenschutzes von Entspannung reden, wo Wissenschaftler keine sehen, dann kann man das durchaus als fahrlässig bezeichnen.

Am bedauerlichsten an dem skandalösen Fall ist allerdings die Tatsache, dass viele Italiener immer noch darauf warten müssen, dass ihre Häuser erdbebensicher gemacht werden. Von diesem essenziellen Anliegen lenken Prozesse wie in L‘Aquila bloß ab.

 


Titz_Sven CroppedDer Autor Sven Titz arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist für Zeitungen und Magazine in Berlin.