Zu Haft und Millionenzahlungen sind Forscher im Fall L’Aquila verurteilt worden. Im Interview mit meta ordnet der italienische Wissenschaftsjournalist Fabio Turone die Urteilsbegründung und Hintergründe des Falles ein. VON MARKUS LEHMKUHL

CC BY NC SA 2.0 Javier Sala Molinameta: Wie geht es den Wissenschaftlern?
Fabio Turone: Sie sitzen jedenfalls nicht im Gefängnis, falls Sie das meinen. Die Verurteilung durch die erste Instanz hat in Italien keine unmittelbaren Rechtsfolgen, wenn man Berufung einlegt. Das ist der Grund, warum einige Beobachter davon ausgehen, dass das Urteil nicht eigentlich das repräsentiert, was es repräsentieren soll. Theoretisch sollte ein Urteilsspruch so etwas sein wie das Resultat einer sorgfältig abgewogenen juristischen Klärung des Sachverhaltes und der ebenso abgewogenen Zuschreibung der Schuld von Angeklagten. Aber weil in Italien erst die zweite Instanz unmittelbare Rechtsfolgen zeitigt für die Verurteilten, meinen manche, das Gericht hätte ein Urteil gefällt, dass der Schuld der Beteiligten nicht gerecht wird.

Und was meinen Sie?
Es gibt Ungereimtheiten! Alle sechs Wissenschaftler, die in dem Meeting waren, in dem über das Erdbebenrisiko beraten wurde, haben dasselbe Urteil bekommen. Und das, obwohl dort auch ein Wissenschaftler saß, der formell gar nicht Mitglied dieser Kommission war, sondern von seinem Chef geschickt wurde, um mit seiner Expertise beizutragen. Der wusste nicht, was da gemacht werden sollte aus seiner Expertise, weil er keinerlei Verantwortung hatte. Er dachte, er ginge dort gewissermaßen freiwillig hin ohne formelle Mitgliedschaft, um seine Pflicht zu erfüllen als Seismologe in einer komplizierten Situation. Der wurde genauso verurteilt wie die anderen. Was für mich nach wie vor schwer zu verstehen ist: Wie kann allen dasselbe Ausmaß an Verantwortung zugeschrieben werden? Jenen, die mit den Medien sprachen, jenen, die nicht mit den Medien sprachen, jenen, die offiziell Mitglieder waren in der Risikokommission und dem, der es nicht war. Es gab keinen Kommunikationsplan, keine offizielle Strategie, wir, die Massenmedien, bekamen keine klaren Mitteilungen. Der einzige, der über das Mandat verfügte, offiziell für die Regierung zu sprechen, war der Vize-Direktor des nationalen Katastrophenschutzes, ein Vulkanologe, und der wurde zur gleichen Strafe verurteilt wie alle übrigen. Die Verurteilten haben Berufung eingelegt. Ich gehe davon aus, dass das Urteil keinen Bestand hat.

Im Februar wurde die Begründung des Urteils veröffentlicht. Es ist hier in der Berichterstattung nicht immer ganz klar, wofür das Gericht die Wissenschaftler eigentlich verurteilt hat. Können Sie uns da aufklären?
Also, das ist kompliziert: Ihnen wird vorgeworfen, dass sie unzutreffenden, beruhigend wirkenden öffentlichen Aussagen politisch Verantwortlicher nicht widersprochen haben. Die Wissenschaftler waren davon ausgegangen, dass Sie keine Verantwortung tragen für das, was von Offiziellen gesagt wird. In der ersten Instanz haben die Verteidiger immer wieder betont, dass Wissenschaftler Erdbeben nicht vorherzusagen vermögen. Aber das Gericht schrieb in einem Absatz der Begründung, dass die Wissenschaftler ja sicher waren, dass die einflussreiche Vorhersage von Gianpaolo Giuliani, ein selbst ernannter Seismologe ohne wissenschaftlichen Hintergrund, falsch sei. Als Antwort auf den Alarmismus, den diese Vorhersage entfachte, sind die Wissenschaftler vielleicht über das hinaus gegangen, was Wissenschaft eigentlich sagen kann, indem sie sagten, diese Vorhersagen wären falsch. Das Gericht interpretierte das nämlich so, als hätten sie damit gesagt, dass es kein Erdbeben geben würde.

Was hatte es denn mit dieser Vorhersage von Giuliani auf sich?
Dem verheerenden Erdbeben waren einzelne kleinere Beben vorausgegangen. Es gab eine Kontroverse zwischen dem selbst ernannten Seismologen Giuliani ohne wissenschaftliche Qualifikation und den seriösen Seismologen. Giuliani bestand darauf, dass er Erdbeben voraussagen könnte, und zwar basierend auf Radon-Emissionen der Erde. Radon-Emissionen werden seit vielen Dekaden analysiert. Seriöse Wissenschaftler wissen, dass es Korrelationen gibt. Die sind aber nicht ausreichend, um darauf eine Vorhersage zu stützen. Der Punkt ist, dass die Öffentlichkeit schon einer unseriös fundierten Alarmierung ausgesetzt war durch Giuliani. In der Region gab es Freiwillige, die mit Aufklebern auf ihren Autos Einwohner aufforderten, ihre Häuser zu verlassen. Insofern hatten die Offiziellen ein vitales Interesse daran, die Situation zu beruhigen.

Es gab ein Verfahren gegen Giuliani wegen des Verdachtes, einen ungerechtfertigten Alarmismus zu befördern, etwas, wofür man in Italien – ich denke auch in Deutschland – verurteilt werden kann. Aber dieses Verfahren brachte keinen Schuldspruch, obwohl er insistierte, dass die Leute ihre Häuser räumen sollten. Diese Alarmierung war natürlich gefährlich, tatsächlich hat er auch nichts wirklich Zutreffendes vorhergesagt, jedenfalls nicht im Detail. Er hatte vorausgesagt, dass das Erdbeden eine andere Stadt treffen würde, er hat nicht vorausgesagt, wann es sich ereignen würde und in welcher Stärke. Das Gericht aber kam im Verfahren gegen Giuliani in diesem speziellen Fall zu dem Ergebnis, dass – obwohl seine Vorhersage nicht präzise war – sie gleichwohl gerechtfertigt gewesen sei. Deshalb wurde er nicht verurteilt.

Beklagt die Unfähigkeit der italienischen Justiz, wissenschaftliche Sachverhalte angemessen zu erfassen: Fabio Turone, Präsident des italienischen Verbandes von Wissenschaftsjournalisten und Direktor der Erice International School of Science Journalism in Sizilien.


Wie interpretieren Sie die beiden Verfahren mit Blick auf die Justiz?

Für mich stehen wir vor einem Versagen der italienischen Justiz, die sich letztlich nicht in der Lage sah, wissenschaftliche Aussagen zu verstehen. Sie war nicht in der Lage, jemanden zu verurteilen, der so tut, als könne er Erdbeben vorhersagen. Auch in der mehrere hundert Seiten dicken Begründung der Verurteilung der sechs Geowissenschaftler geht aus mehreren Passagen hervor, dass das Gericht den eigentlichen wissenschaftlichen Gegenstand nicht verstanden hat. Insofern verweist das Urteil auf ein größeres Thema, nämlich das Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlicher Unsicherheit und der juristischen Notwendigkeit, Eindeutigkeit herzustellen.

Wie meinen Sie das?
Das Thema ist kompliziert: Es gibt aus meiner Sicht ein Problem in der Verständigung zwischen Wissenschaftlern und der Bürgerschaft, das eben nicht einfach lediglich Laien betrifft, sondern eben solche Teile der Bürgerschaft, die in Positionen sind, in denen Sie bindende Entscheidungen zu treffen haben, also namentlich Richter und Politiker. In diesem speziellen Fall haben auch die Medien eine Verantwortung. Es gibt hier Probleme zwischen legitimer wissenschaftlicher Sicherheit bzw. Unsicherheit auf der einen, und Leuten, die nur vorgeblich im Namen der Wissenschaft Vorhersagen machen auf der anderen. Dies hat seinen Ursprung vermutlich darin, dass das Verständnis der wissenschaftlichen Methode sehr unterentwickelt ist. Das schlägt sich schon bei so basalen Dingen nieder wie dem, dass eine vermeintliche Vorhersage wie die von Giuliani nicht schon deshalb wissenschaftlich ist, weil sie zufällig eingetroffen ist, jedenfalls zum Teil.

Gab es denn auch Verständigungsprobleme auf Seiten der Wissenschaft?
Ja, unbedingt! Ich glaube, dass die Wissenschaftler nicht kapiert haben, dass sie beschuldigt worden sind, der Regierung als Sprachrohr gedient zu haben. Die offiziellen Stellen hatten die klare Intention, die Lage zu beruhigen und eben nicht, die Situation zu evaluieren. Das kommt schon darin zum Ausdruck, dass das entscheidende Meeting nicht in Rom, sondern in L’Aquila anberaumt wurde, wo ausgelöst durch den Alarm Giulianis Unruhe herrschte. Später hat die wissenschaftliche Community nicht akzeptiert, dass ihre Rolle bei der Sache kritisch hinterfragt wurde. Stattdessen haben die Wissenschaftler insistiert, im Verfahren ginge es darum, dass sie keine Beben vorhersagen könnten. Die wissenschaftliche Community weltweit wurde aufgerufen, dies zu bestätigen, obwohl das eigentlich gar nicht das Thema war. Worauf es ankommt ist: Was muss man von Wissenschaftlern in dieser Situation erwarten, in der es darum geht, gegenüber der Bevölkerung und den Medien über Unsicherheit zu sprechen. Und was muss man von Regierungsstellen erwarten?

Was sagen Sie denn zu der These, die verurteilten Wissenschaftler seien Sündenböcke für Versäumnisse anderer?
Das Verfahren bisher drehte sich natürlich um die Verantwortung, die den Angeklagten juristisch zugerechnet werden kann. Es gibt aber wichtige Themen, die in so einem Rahmen in den Hintergrund treten. Zum Beispiel die Frage, ob es überhaupt Evakuierungspläne gibt oder gab, soweit ich sehe, gab es die nicht. Zum anderen die Tatsache, dass nach wie vor in gefährdeten Regionen nicht erdbebensicher gebaut wird, und zwar mit Kenntnis und Genehmigung der lokalen Behörden. Es ist deshalb tatsächlich ein bisschen eine Geschichte wie die von dem, der das Pech hatte, geschnappt zu werden und nun für alle Schuldigen zahlen soll.

Sie haben eine Menge Aspekte des Themas genannt, das problematische Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und Politik, die Schwierigkeiten, wissenschaftliche Unsicherheit angemessen zu kommunizieren; Hat denn dieser Fall dazu beigetragen, dass sich die italienische Gesellschaft dieser Probleme jetzt bewusster ist als zuvor?
Ich fürchte, nein. Ich glaube, dass die Kluft zwischen Wissenschaft und Gesellschaft im Gegenteil größer geworden ist durch diese Ereignisse. Denn es hat Raum geschaffen für jene, die Wissenschaft nur wegen der Limitationen ihrer Aussagekraft attackieren.

 


Markus LehmkuhlMit Fabio Turone sprach Markus Lehmkuhl. Markus Lehmkuhl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Wissenschaftskommunikation der Freien Universität Berlin. Er leitet die Redaktion von meta seit 2007.